Paläopathologie Teil I: Krebs – ein uraltes Problem

Dr. Rainer Schoch ist Paläontologe und am Museum für die Amphibien- und Reptiliensammlung aus dem Erdaltertum und dem Erdmittelalter verantwortlich.

Krebs. Eine häufige Diagnose bei Menschen – und durchaus auch Wirbeltieren – in der heutigen Zeit. Aber wer hätte gedacht, dass diese Erkrankung tief verwurzelt ist im Stammbaum der Vertebraten? Auch meine KollegInnen und ich waren überrascht, einen bisher u.a. beim Menschen bekannten Knochenkrebs an einem 240 Millionen Jahre alten Fossil – der Opaschildkröte (Pappochelys rosinae) – zu finden, und damit weitere Erkenntnisse zum Verständnis der Entwicklung von Krebs in der Landwirbeltierevolution zu gewinnen.

Der „Patient“: Pappochelys rosinae

Manchmal lohnt es sich, hartnäckig an einer Fundstelle zu graben, obwohl man gar nichts neues mehr erwartet hatte. So ein Fund gelang unserem paläontologischen Team in einem Steinbruch bei Vellberg mit der Entdeckung der Opaschildkröte Pappochelys rosinae. Das 30 cm lange Reptil wirkt neben den längst bekannten 3–6 m langen Sauriern und Riesenamphibien winzig. Unter tausenden Knochen der gewaltigen triassischen Räuber sind die zerbrechlichen Skelettreste der Vellberger Urschildkröte nicht nur schwer auszumachen, sondern bilden auch große Seltenheiten.

Pappochelys, die Opa-Schildkröte. Am rechten Bildrand ist das Vorderteil des Tieres zu sehen, links ist der lange Schwanz erkennbar. (Bild: SMNS/R. Schoch)
Pappochelys – vom Skelett zur Rekonstruktion. (Bilder: SMNS/R. Schoch)

Pappochelys, die Opaschildkröte aus Baden-Württemberg, wurde 2015 erstmals der Wissenschaft vorgestellt und die Anatomie ihres Skelettes wurde 2018 vollständig beschrieben. Der Fund brachte viele neue und manche sehr unerwartete Daten zur Entstehung der Schildkröten. Zusammen mit den in China entdeckten Urschildkröten half sie dabei, das jahrhundertealte Rätsel der Herkunft der Schildkröten weitgehend zu lösen.

Äußerlich einer stämmigen Echse ähnlich, zeigt das Skelett eindeutige Merkmale der Schildkröten: Die Rippen waren verkürzt und plattenartig zu einer frühen Form des Rückenpanzers verbreitert, das Schulterblatt stielartig verlängert, die Wirbelzahl auf neun reduziert, und im Bauch eine Batterie kräftiger Stangen, aus denen später der Bauchpanzer entstehen sollte. Im Gegensatz zu heutigen Schildkröten besaß Pappochelys noch Zähne und hatte einen spangenartig gebauten Schädel, ähnlich dem heutiger Brückenechsen und Leguane.

Diagnose: Knochentumor!

Mit einem Alter von rund 240 Millionen Jahren war Pappochelys deutlich älter und im Knochenbau primitiver als die bisher ältesten Urschildkröten Odontochelys und Eorhynchochelys aus China. Doch die Opaschildkröte ist nicht nur evolutionärer und geologischer Rekordhalter – sie liefert auch spannende medizinische Befunde! An einem Oberschenkelknochen entdeckten wir eine merkwürdige, bereits mit bloßem Auge erkennbare äußerliche Wucherung. Meine Kollegen Yara Haridy und Florian Witzmann (Museum für Naturkunde Berlin) hatten da bereits einen Verdacht und ließen den Knochen computertomographisch scannen. Und tatsächlich zeigte das Innere des Knochens im Mikro-CT-Bild eindeutige Gewebestrukturen, die durch eine bestimmte Art von Knochenkrebs hervorgerufen wurde. Hinzugezogene Experten, wie der Radiologe Patrick Asbach (Charité Berlin) und der Knochenpathologe Bruce Rothschild (Pittsburgh), bestätigten die schwere Krankheit schließlich: periostales Osteosarkom – ein bösartiger Knochentumor.

Im Vergleich: oben ein gesunder Oberschenkelknochen, unten mit Knochenkrebs. (Bilder: R. Schoch
Oben: Skelettrekonstruktion von Pappochelys, rot markiert der linke Oberschenkelknochen. Unten: Micro-CT-Aufnahme des Oberschenkelknochens, die Wucherung am oberen Ende ist deutlich zu erkennen. (Bild: Brian Engh)

Paläontologie trifft Medizin: Paläopathologie

Damit gelang nicht nur ein seltener Nachweis von Knochenkrebs außerhalb des Menschen, sondern zugleich der geologisch älteste Befund bei einem Landwirbeltier überhaupt. Die Ergebnisse wurden in der angesehenen onkologischen Fachzeitschrift JAMA Oncology veröffentlicht und bilden den jüngsten Brückenschlag zwischen zwei Wissenschaften, die verschiedener kaum sein könnten: Paläontologie und Medizin, die immer mehr zu einer gemeinsamen Disziplin verschmelzen, der Paläopathologie.


Literatur


Haridy Y, Witzmann F, Asbach P, Schoch RR, Fröbisch N, Rothschild BM. Triassic Cancer—Osteosarcoma in a 240-Million-Year-Old Stem-Turtle. JAMA Oncol. Published online February 07, 2019. doi:10.1001/jamaoncol.2018.6766

Rainer R. Schoch & Hans-Dieter Sues (2018) Osteology of the Middle Triassic stem-turtle Pappochelys rosinae and the early evolution of the turtle skeleton, Journal of Systematic Palaeontology, 16:11, 927-965, DOI: 10.1080/14772019.2017.1354936

Schoch, R.R. 2017. Die Frühzeit der Saurier in Deutschland. Vom karbonischen Regenwald zur Entstehung der Dinosaurier. Pfeil-Verlag, München.

Naturkundemuseum Stuttgart

Das Staatliche Museum für Naturkunde Stuttgart (SMNS) mit seinen beiden Standorten Museum am Löwentor und Schloss Rosenstein ist eines der größten Naturkundemuseen Deutschlands und versteht sich als zukunftsorientierte Forschungs- und Bildungseinrichtung. Es trägt Verantwortung für umfangreiche wissenschaftliche Sammlungen aus den Bereichen Botanik, Entomologie, Geologie, Mineralogie, Paläontologie und Zoologie. Diese Sammlungen stellen ein Archiv der Natur von internationalem Rang und kulturellem Wert dar. Mit Sammlungen und Forschungsleistungen sowie als Institution der zeitgemäßen Vermittlung naturkundlichen Wissens in Ausstellungen, Veranstaltungen und Publikationen ist das Staatliche Museum für Naturkunde Stuttgart ein wesentlicher Bestandteil der Kultur- und Wissenslandschaft Baden-Württembergs.

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