Vom Pollenfresser zum Saftsauger
99 Millionen Jahre alte Einschlüsse im Burma-Bernstein geben neue Hinweise zur Evolution der Insekten

Dr. Günter Bechly forscht in der Abteilung Paläontologie an fossilen Insekten in Bernsteinen und Plattenkalken mit systematischem Schwerpunkt auf Libellen.
Ein internationales Forscherteam entdeckte unter maßgeblicher Beteiligung dreier Wissenschaftler unseres Museums eine neue fossile Insektenart im kreidezeitlichen Burma-Bernstein. Die Art erhielt den Namen Psocorrhyncha burmitica und gehört zur neuen Ordnung Permopsocida. Die urzeitlichen Pollen-Fresser bestäubten Blütenpflanzen der Kreidezeit und gehören als Missing Link in die Verwandtschaft der Pflanzen saugenden Insekten, die mit über 100.000 Arten heute eine der artenreichsten Insektengruppen bilden.
Wir Wissenschaftler forschen heutzutage nur noch selten alleine vor uns hin, sondern arbeiten in eng vernetzten Teams mit internationalen Kollegen. Gerade bei der Erforschung artenreicher Gruppen wie der Insekten ist dies wegen der notwendigen Spezialisierung auch gar nicht anders möglich. Zudem sind wir bei der Suche nach interessanten Neuentdeckungen auch verstärkt auf engagierte Amateure, Privatsammler und Händler angewiesen, die oft über wissenschaftlich hochinteressantes Material verfügen, das als verborgener Schatz in ihren Sammlungen der Entdeckung harrt. Erst durch die Zusammenarbeit mit spezialisierten Wissenschaftlern werden diese Schätze erkannt und so der Forschung zugänglich gemacht. Meist ist es dann sogar möglich, dass die entsprechenden Stücke entweder von uns erworben werden oder als Stiftung in unsere Sammlung gelangen.

Makroaufnahme von Psocorrhyncha burmitica, einer 99 Mio. Jahre alten Inkluse im Burma-Bernstein. Bild: K. Wolf-Schwenninger/SMNS.
Als mich im Herbst 2013 mein französischer Kollege Dr. André Nel vom Pariser Naturkundemuseum besuchte, zeigte ich ihm ein paar ungewöhnliche Insekteneinschlüsse im kreidezeitlichen Burma-Bernstein, die unserem Museum von dem Privatsammler Rainer Ohlhoff aus Saarbrücken gestiftet worden waren. Bei der näheren Untersuchung, zusammen mit meinen Kollegen Dr. Arnold Staniczek und Dr. Lars Krogmann, stellten wir fest, dass dieses Tier in die Verwandtschaft einer ausgestorben Insektengruppe gehört, die bisher nur aus schlecht erhaltenen Versteinerungen bekannt war. Wir waren begeistert, nun erstmals einen vollständig und perfekt erhaltenen Vertreter dieser Gruppe im Bernstein vor uns zu haben, bei dem alle Details des Körperbaus wunderbar zu sehen waren. Kurioserweise entdeckte ein Mitarbeiter von Dr. Nel, der gerade in China auf Forschungsreise war, zeitgleich und unabhängig in einer dortigen Bernstein- Sammlung zwei weitere Einschlüsse der gleichen Art. Später konnten wir von dem Kassler Bernsteinhändler Sieghard Ellenberger noch ein weiteres Exemplar erwerben. Nun hatten wir sowohl Männchen als auch Weibchen für die wissenschaftliche Untersuchung zur Verfügung.
Unsere Forschergruppe für dieses Projekt wuchs bald auf 17 Wissenschaftlern aus 7 Ländern an. Wir machten uns gemeinsam mit unterschiedlichen Methoden und Expertisen an die Untersuchung dieser sensationellen Funde. Dazu wandten wir modernste Verfahren wie Synchrotron-Computertomografie, Fluoreszenzmikroskopie und Laserkonfokalmikroskopie an.

Mikro-CT-Aufnahme von Psocorrhyncha burmitica mit im Darm befindlichen Pollenkörnern eines Tupelogewächses. Bild: T. van de Kamp/KIT-ANKA.
Bei einem unsere Tiere fanden wir bei der computer-tomografischen Untersuchung Pollen als Darminhalt. Mittels eines eigens dafür neu entwickelten Präparationsverfahrens gelang es uns sogar, diese Pollen aus dem Darmtrakt der fossilen Insekten zu entnehmen und anschließend unter dem Rasterelektronenmikroskop zu untersuchen. Dies ermöglichte deren Identifizierung als Pollen einer Blütenpflanze aus der Verwandtschaft der Tupelogewächse (Nyssaceae). Offensichtlich gehörten unsere Tiere zu den Bestäubern dieses Gewächses und waren somit frühe Blütenbesucher in einem Abschnitt der Erdgeschichte, in dem die gemeinsame Evolution von Blütenpflanzen und bestäubenden Insekten gerade erst in Gang gekommen war. In der Folge führte dies zu einer explosiven Entfaltung beider Organismengruppen.

Um den Pollen aus dem im Bernstein eingeschlossenen Tier zu extrahieren, wurde die Inkluse in Kanadabalsam (ein natürliches Baumharz) erhitzt. Mit einem Mikro-Meißel wurde der Bernstein aufgebohrt und das Insekt am Hinterleib angestochen, so dass das flüssige Baumharz in das Körperinnere eindringen konnte. Danach wurden mit einer gebogenen Minutie Pollenkörner mechanisch aus dem Darm gekratzt und im gelösten Kanadabalsam mit einer Pipette aus dem Bernstein gesogen. Nach einer Reinigung mit Toluol konnten die Pollenkörner dann im Rasterelektronenmikroskop untersucht werden. Bild: D. Azar/MNHN
Wir gaben unserer neu entdeckten Art den wissenschaftlichen Namen Psocorrhyncha burmitica. Eine computergestützte Verwandtschaftsanalyse zeigte, dass sie gemeinsam mit verwandten anderen fossilen Formen zu einer neue Großgruppe (Ordnung Permopsocida) gehört, die als evolutionäres Bindeglied (Missing Link) zwischen den Staub- und Rindenläusen (Psocoptera) einerseits und den pflanzensaugenden Insekten anderseits (Fransenflügler, Pflanzenläuse, Zikaden und Wanzen) vermittelt.
Die Permopsocida waren noch eine eher unspezialisierte und artenarme Gruppe, die zwar mindestens 185 Millionen Jahre lang existierte, aber während der oberen Kreidezeit vor 65 Mio. Jahren schließlich ausstarb. Wahrscheinlich, weil sie durch modernere Blütenbestäuber wie Schmetterlinge und Bienen verdrängt wurde.

Rekonstruktionszeichnung von Psocorrhyncha burmitica. Bild: D. Huang/Nanjing Institute of Geology.
Die mit der Gruppe nahe verwandten Schnabelkerfe (Pflanzenläuse, Zikaden und Wanzen) sind hingegen wegen ihrer stechend- saugenden Mundwerkzeuge oftmals Schädlinge oder Krankheitsüberträger und daher auch für den Menschen von großer Bedeutung. Die Untersuchung des Aufbaues der Mundwerkzeuge des fossilen Pollenfressers Psocorrhyncha burmitica lieferte auch wichtige Hinweise zur Evolution des spezialisierten Saugrüsselapparates der Pflanzenläuse, Zikaden und Wanzen aus ursprünglich kauenden Mundwerkzeugen. Die stechend-saugenden Mundwerkzeuge dürften als evolutionäre Schlüsselinnovation wohl eine der Hauptursachen für den enormen Artenreichtum der Schnabelkerfe sein.
Die Ergebnisse der Untersuchungen wurden nun in der renommierten Fachzeitschrift Scientific Reports veröffentlicht:
Huang, D., Bechly, G., Nel, P., Engel, M.S., Prokop, J., Azar, D., Cai, C.-Y., Van De Kamp, T., Staniczek, A., Garrouste, R., Krogmann, L., Dos Santos Rolo, T., Baumbach, T., Ohlhoff, R., Shmakov, A., Bourgoin, T. & Nel, A. (2016): New fossil insect order Permopsocida elucidates major radiation and evolution of suction feeding in hemimetabolous insects (Hexapoda: Acercaria). Scientific Reports, 6: 23004; doi: 10.1038/srep23004.
Artikel-Link: http://www.nature.com/articles/srep23004
Ergänzende Informationen: http://www.nature.com/article-assets/npg/srep/2016/160310/srep23004/extref/srep23004-s1.pdf