Killer-Kakerlaken im Schatten der Dinosaurier

Ein Aufsehen erregender Fund in 100 Millionen Jahre altem Bernstein aus Burma
Bechly_Blog

Dr. Günter Bechly forscht in der Abteilung Paläontologie an fossilen Insekten in Bernsteinen und Plattenkalken mit systematischem Schwerpunkt auf Libellen.

Wenn die Insektenkundler an unserem Museum etwas von Bernsteinschaben hören, so denken sie sogleich an eine unserer mitteleuropäischen  Waldschabenarten, die völlig harmlos ist und ihren Namen nur wegen der gelbbräunlichen Färbung trägt. Ich hingegen denke bei dem Wort Bernsteinschabe sofort an eine fossile Schabe, vor Jahrmillionen in Baumharz eingeschlossen, das später zu Bernstein wurde. Kein Wunder, denn ich bin Bernsteinforscher und beschäftige mich nur mit ausgestorbenem Geziefer. In diesem Jahr gelang uns die Entdeckung einer ganz besonderen und sicher weniger harmlosen Bernsteinschabe, die es sogar bis auf die Titelseite der BBC-Website schaffte.

Jeder Wissenschaftler hat seine Steckenpferde, mit denen er sich vorzugsweise beschäftigt, weil bestimmte Themen seine Neugier wecken und spannende Forschungsergebnisse erwarten lassen. Da ich mich für die Stammesgeschichte und Evolution der Insekten interessiere, kam ich schon früh in meiner Laufbahn zu meiner Begeisterung für die fossilen Insekten aus der Kreidezeit.

Dies hat vor allem zwei Gründe: Zum einen ist die Kreidezeit einer der zentralen Abschnitte in der Evolutionsgeschichte der Insekten, da mit Beginn dieses Erdzeitalters die ersten Blütenpflanzen erschienen und damit die überaus erfolgreiche Co-Evolution von Blüten und Bestäubern ihren Anfang nahm. Diese Co-Evolution machte die Blütenpflanzen zur erfolgreichsten Pflanzengruppe und die Insekten zu der mit Abstand artenreichsten und vielfältigsten aller Tiergruppen. Zum anderen gab es lange Zeit ausgerechnet für diese Schlüsselphase der Insektenevolution kaum fossile Belege. Dies führte dazu, dass einer meiner Amtsvorgänger, der berühmte Insektenkundler und Begründer der modernen Stammesgeschichtsforschung Prof. Willi Hennig noch 1969 in seinem Standardwerk Die Stammesgeschichte der Insekten folgendes zu sagen hatte: „Einer der beklagenswertesten Mängel in unseren Kenntnissen der Stammesgeschichte der Insekten ist das fast völlige Fehlen von Fossilfunden aus der Kreide“.

In den folgenden Jahrzehnten wurden zwar verschiedene Fundstellen kreidezeitlicher Insektenfossilien in aller Welt entdeckt, aber nur wenige dieser Fundstellen liefern eine größere Anzahl und Vielfalt an fossilen Insekten in guter Erhaltung. Dazu gehören vor allem die unterkreidezeitlichen Plattenkalke aus dem Osten Chinas (Liaoning) und der Nordosten Brasiliens (Crato). Mit letzteren habe ich mich viele Jahre intensiv beschäftigt und konnte dabei zahlreiche interessante Entdeckungen machen. Vor einigen Jahren stieß ich jedoch auf eine andere Fundstelle, die seitdem mein Interesse fesselt: es sind die Insekteneinschlüsse im mittelkreidezeitlichen Bernstein von Myanmar. Die meisten kennen dieses südostasiatische Land vielleicht noch eher unter seinen früheren Namen Burma oder Birma. Westliche Wissenschaftler wurden zwar schon Ende des 19. Jahrhunderts auf den Burmesischen Bernstein aufmerksam (Helm, 1892) und erste Insekten-Einschlüsse bald darauf beschrieben (Cockerell, 1917), aber danach geriet er unter Wissenschaftlern leider wieder weitgehend in Vergessenheit. Erst im 21. Jahrhundert wurde seine enorme paläontologische Bedeutung erkannt und neues Material erschlossen (Grimaldi et al., 2002; Poinar et al., 2008; Ross et al., 2010).

Burma

Die Bernsteinmine, in denen die Schabe gefunden wurde, liegt im Hukawng Tal im „wilden“ Norden des südostasiatischen Staates Myanmar (früher Burma). Bild: Uwe Dedering, Wikimedia Commons.

Nach langem Rätselraten um sein Entstehungsalter konnte der burmesische Bernstein schließlich mittels einem speziellen physikalischen Verfahren sehr genau datiert werden, auf ein absolutes Alter von 98,79 Millionen Jahren (Shi et al., 2012). Dies war nur möglich, weil in der Kruste des Bernsteins kleine Zirkonkristalle vulkanischen Ursprungs zu finden sind, in denen Uran- und Blei-Isotope eine Art natürlicher Uhr bilden. Eine solch präzise Altersbestimmung ist für Bernstein ein einzigartiger Ausnahmefall. Bernstein ist kein Edelstein, sondern ein fossiles Baumharz. Vergleichende Harzanalysen deuten darauf hin, dass der Burmesische Bernstein von Nadelbäumen aus der Araukarien-Verwandtschaft gebildet wurde (Poinar et al., 2007).

Die Bernsteinminen liegen im Hukawng-Tal im Norden des Landes (Cruickshank& Ko, 2003), der immer wieder von bürgerkriegsartigen Unruhen heimgesucht wird. Daher ist es leider kaum möglich vor Ort selbst Bernstein zu suchen. Ich nahm deshalb mit Bernstein-Sammlern und Händlern Kontakt auf und hatte dadurch schon bald die Gelegenheit tausende von Stücken Burmesischen Bernsteins unter meinem Mikroskop nach Einschlüssen zu durchsuchen. Dabei wurde mir schnell klar, dass es sich hierbei ohne Zweifel um eine der weltweit vielversprechendsten und reichhaltigsten Quellen für wichtige neue Erkenntnisse zur Evolution der Insekten handelt. Bei keiner anderen Fossilfundstelle aus der Kreidezeit, auch nicht bei solchen die einige Millionen Jahre älter sind, habe ich je zuvor eine solch große Anzahl von merkwürdigen Insektenformen gesehen. Überraschend oft handelt es sich um evolutionäre Zwischenformen („missing links“), frühe Ahnenformen heutiger Gruppen und/oder um völlig neue Großgruppen, z.B. neue Familien oder sogar neue Ordnungen. Was bei anderen Fundstellen die Ausnahme ist, ist beim Burmesischen Bernstein schon fast die Regel: Man schaut durch das Mikroskop und plötzlich schallt ein spontaner Ausruf durch die Museumsgänge „Mein Gott, was ist DAS denn?!“. Aus diesem Grunde haben wir den Burmesischen Bernstein als einen neuen Sammlungsschwerpunkt an unserem Museum auserkoren, der vor allem mit der großzügigen Unterstützung durch unsere Förderer-Gesellschaft seit 2012 stetig ausgebaut werden konnte. Unsere Sammlung ist zwar zahlenmäßig noch nicht sehr groß (sie umfasst derzeit 162 Objekte), aber es handelt dafür ausschließlich um ausgesuchte Stücke mit extrem seltenen und wissenschaftlich sensationellen Einschlüssen. Die Mehrzahl dieser Einschlüsse wurde von dem deutschen Bernsteinkundler Sieghard Ellenberger (Kassel) bei seinen nicht ungefährlichen Reisen aus Burma mitgebracht. Er hatte sie dort nach Durchsicht von zehntausenden von Inklusensteinen bei einheimischen Zwischenhändlern schon als Besonderheiten erkannt und für die Wissenschaft gesichert, denn sehr viel Bernsteinmaterial geht nach China in die Schmuckherstellung.

Manipulator modificaputis

Die Killer-Kakerlake Manipulator modificaputis im Burmesischen Bernstein. Die gelb-rote Färbung ist die tatsächliche Farbe des Bernsteins und wurde in den anderen Fotos digital herausgefiltert, um die natürliche Färbung der eingeschlossenen Schabe zu enthüllen. Bild: S. Ellenberger.

Für die wissenschaftliche Untersuchung dieser Fossilien haben wir eine Arbeitsgruppe am Museum eingerichtet, in der ich in sehr fruchtbarer Weise mit meinen Kollegen aus der Abteilung Entomologie zusammenarbeite. Da angesichts der enormen Vielfalt der Insekten jeder Insektenforscher zu einem gewissen Grade auch ein „Fachidiot“ sein muss, der sich auf bestimmte Gruppen spezialisiert hat, bietet sich in vielen Fällen aber auch die Kooperation mit Fachleuten von anderen Instituten im In- und Ausland an. Dies gilt auch für die Gruppe der schabenartigen Insekten, die nicht nur die Schaben im engeren Sinne sondern auch die mit ihnen eng verwandten Termiten und Gottesanbeterinnen umfasst (Grimaldi & Engel, 2005). Ich fragte daher Dr. Peter Vršanský vom Geologischen Institut der Comenius-Universität in Bratislava, ob er als weltweit renommierter Spezialist für fossile Schaben vielleicht Interesse habe, die Einschlüsse dieser Tiere in unserer Burmesischen Bernsteinsammlung gemeinsam mit mir zu untersuchen und zu beschreiben. Ich sendete ihm im März 2014 ein paar erste Fotos per Email, die er so interessant fand, dass er zwei Monate später zu einem Forschungsaufenthalt nach Stuttgart kam.

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Digital gefiltertes Foto der linken Körperseite von Manipulator modificaputis. Die Harzschlieren erschwerten die Untersuchung und Dokumentation des Tieres. Bild: SMNS / P. Vršanský.

Unsere gemeinsamen Untersuchungen konzentrierten sich vor allem auf Gottesanbeterinnen und deren noch schabenartige Vorfahren. Ein Stück stach uns sofort ins Auge, da es mit seinen extrem langen und dünnen Beinen völlig anders aussieht als alle anderen bekannten fossilen oder lebenden Insekten, fast eher wie eine Chimäre aus Schnake, Schabe und Gottesanbeterin. Bei der näheren Untersuchung und dem Vergleich aller wichtigen Merkmale des Körperbaus und des Flügelgeäders stellte sich bald heraus, dass es sich um einen Vertreter einer völlig neue Insektengruppe handelt, die als neue Familie in die frühe Ahnenreihe der Gottesanbeterinnen eingeordnet werden kann.

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Zeichnung der linken Körperseite von Manipulator modificaputis. Bild: P. Vršanský.

Die Tiere waren offensichtlich räuberisch, aber besaßen völlig andere Anpassungen zur Jagd als die heutigen Gottesanbeterinnen. Sie hatten noch keine Fangbeine, sondern lange, dünne Beine zum schnellen Laufen und einen sehr beweglichen Kopf mit extrem langen Tastern, die fast wie ein viertes Beinpaar wirken. Zusammen mit dem erhaltenen Färbungsmuster und den großen Augen deuten diese Anpassungen darauf hin, dass es sich bei den etwa 1 cm großen Tieren um dämmerungsaktive Pirschjäger handelte, die als Zeitgenossen der Dinosaurier vor knapp 100 Millionen Jahren in einem tropischen Araukarien-Wald ihrer Insektenbeute nachstellten. Wir gaben der neuen Schabenart den wissenschaftlichen Namen Manipulator modificaputis, in Anspielung auf ihre speziellen anatomischen Eigenheiten. Die neue Familie wurde folglich Manipulatoridae getauft. Eine deutschen Namen gibt es zwar offiziell noch nicht, aber „Manipulatoren“ wäre doch eigentlich ein cooler Vorschlag und klingt recht bedrohlich. Zu recht, denn für ihre Beuteinsekten waren die Manipulatoren zweifellos gefürchtete Killer.

Oberseite von M. modificaputis

Blick auf die Oberseite von Manipulator modificaputis. Auffällig ist der lange und dünne Nacken sowie das sattelförmige Halsschild mit erhaltenem Farbmuster. Bild: SMNS / P. Vršanský.

Im Erdmittelalter gab es verschiedene Gruppen solcher schabenartiger Insekten, die unabhängig voneinander eine räuberische Lebensweise entwickelten. Fast alle dieser Raubinsekten sind später ausgestorben, so z.B. die großen Raphidiomimidae, mit einer Flügelspannweite bis zu 20 cm, und die von uns neu entdeckten Manipulatoridae. Lediglich die echten Gottesanbeterinnen (Ordnung Mantodea) haben bis heute überlebt, mit mehr als 2.400 lebenden Arten, vor allem in den Subtropen und Tropen. Begünstigt durch den Klimawandel breitet sich die Europäische Gottesanbeterin Mantis religiosa inzwischen auch in Deutschland aus. Während sie früher nur an wenigen Wärmeinseln wie dem Kaiserstuhl zu finden war, gibt es heute sogar Vorkommen nahe Berlin.

Larve einer echten Gottesanbeterin in einem Burmesischen Bernstein aus der Sammlung unseres Museums. Charakteristisch für Gottesanbeterinnen ist der große Dorn am am Vorderbein. Bild: S. Ellenberger.

Larve einer echten Gottesanbeterin in einem Burmesischen Bernstein aus der Sammlung unseres Museums. Charakteristisch für Gottesanbeterinnen ist der große Dorn am am Vorderbein. Bild: S. Ellenberger.

Die wissenschaftliche Beschreibung von Manipulator modificaputis war recht aufwändig, da das Tier im Bernstein durch Harzschlieren teilweise verdeckt und verzerrt ist. Es mussten hunderte von Fotos aufgenommen und digital zusammengesetzt werden und die detaillierte Zeichnung, die selbst die feinsten Härchen originalgetreu wiedergibt, benötigte ebenfalls wochenlange Feinarbeit. Nach der Dokumentation war ein sorgfältiger Vergleich aller Merkmale des Körperbaus mit anderen fossilen und heutigen Schabenverwandten nötig, um die genau systematische Stellung des Tieres aufzuklären.

Die Entdeckung der neuen Familie räuberischer Schaben wurde von Peter Vršanský und mir in der jüngsten Ausgabe der Fachzeitschrift Geologica Carpathica veröffentlicht (Vršanský & Bechly, 2015). Das weltweite Presse-Echo auf unsere Arbeit überraschte uns danach selbst, denn die Story über die „räuberische Urzeit-Kakerlake“ schaffte es sogar für zwei Tage auf die Titelseite der BBC-Website, sowie in die Onlineausgaben zahlreicher internationaler und fast aller deutschen Tages- und Wochenzeitungen.

Literatur:

  1. Cockerell, T.D.A. (1917): Arthropods in Burmese Amber. American Journal of Science 44: 360–368; Psyche 24(2): 40-45.
  2. Cruickshank, R.D. & Ko, K. (2003): Geology of an amber locality in the Hukawng Valley, northern Myanmar. Journal of Asian Earth Sciences 21: 441–455.
  3. Grimaldi, D.A. & Engel, M.S. (2005): Evolution of the Insects. Cambridge University Press, Cambridge.
  4. Grimaldi, D.A., Engel, M.C. & Nascimbene, P.C. (2002): Fossiliferous Cretaceous amber from Myanmar (Burma): its rediscovery, biotic diversity, and paleontological significance. American Museum Novitates 3361: 1−71.
  5. Helm, O. (1892): On a new, fossil, amber-like resin occurring in Burma. Records of the Geological Survey of India 25: 180−181.
  6. Hennig, W. (1969): Die Stammesgeschichte der Insekten. Kramer, Frankfurt a.M.
  7. Poinar, G.O. Jr., Lambert, J.B. & Wu, Y. (2007): Araucarian source of fossiliferous Burmese amber: spectroscopic and anatomical evidence. Journal of the Botanical Research Institute of Texas 1: 449–455.
  8. Poinar, G.Jr., Buckley, R. & Brown, A.E. (2008): Secrets of Burmite amber. Maps digest 20: 21-29.
  9. Ross, A., Mellish, C., York, P. & Crighton, B. (2010): Burmese amber. S. 208−235 in: Penney, D. (Hrsg.), Biodiversity of fossils in amber from the major world deposits. Siri Scientific Press, Rochdale.
  10. Shi, G., Grimaldi, D.A., Harlow, G.E., Wang, J., Wang, J., Wang, M., Lei, W., Li, Q. & Li, X. (2012): Age constraint on Burmese amber based on U-Pb dating of zircons. Cretaceous Research 37: 155−163.
  11. Vršanský, P. & Bechly, P. (2015): New predatory cockroaches (Insecta: Blattaria: Manipulatoridae fam.n.) from the Upper Cretaceous Myanmar amber. Geologica Carphatica 66(2): 133–
  12. Xia, F., Yang, G., Zhang, Q., Shi, G. & Wang, B. (2015): Amber: Lives through time and space. viii+197 S. Science Press, Beijing.

Naturkundemuseum Stuttgart

Das Staatliche Museum für Naturkunde Stuttgart (SMNS) mit seinen beiden Standorten Museum am Löwentor und Schloss Rosenstein ist eines der größten Naturkundemuseen Deutschlands und versteht sich als zukunftsorientierte Forschungs- und Bildungseinrichtung. Es trägt Verantwortung für umfangreiche wissenschaftliche Sammlungen aus den Bereichen Botanik, Entomologie, Geologie, Mineralogie, Paläontologie und Zoologie. Diese Sammlungen stellen ein Archiv der Natur von internationalem Rang und kulturellem Wert dar. Mit Sammlungen und Forschungsleistungen sowie als Institution der zeitgemäßen Vermittlung naturkundlichen Wissens in Ausstellungen, Veranstaltungen und Publikationen ist das Staatliche Museum für Naturkunde Stuttgart ein wesentlicher Bestandteil der Kultur- und Wissenslandschaft Baden-Württembergs.

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Eine Antwort

  1. iiririt sagt:

    die sehen süß aus.

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